Rehabilitation

Salka-Valka Schallenberg beim Vortrag in der Gedenkstätte Moritzhof, Foto: Bernd Schallenberg

Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg: Vortrags- und Diskussionsveranstaltung zu Zersetzungsmaßnahmen des DDR-Staatssicherheitsdienstes

Im Rahmen einer Begleitveranstaltung zur Sonderausstellung "ZERSETZUNG" referierte am Donnerstag, dem 2. Juni 2022 die Politikwissenschaftlerin und Ausstellungskuratorin Dr. Sandra Pingel-Schliemann zur Ausschaltung unangepasster und kritischer Menschen in der DDR durch das MfS mittels "zersetzender Maßnahmen". Am anschließenden Podium nahmen auch wir teil, ich als Enkeltochter des DDR weit bekannten Künstlers Otto Nagel. Ich hielt den folgenden Vortrag über die Zersetzungsmaßnahmen durch die Staatsicherheit und die Folgen für meine Familie.
 
Titel Vortrag „Die Familie des Künstlers Otto Nagel: In der DDR politisch verfolgt und enteignet"

Zersetzung durch das MfS - Für Sibylle Schallenberg-Nagel, meine Mutter, war es der „unsichtbare Knüppel“, der die Familie traf. Ein Knüppel, hinter dem sich schwer zu durchschauende Intrigen, Beschuldigungen und Lügen verbargen. Immer wieder erzählt sie das. Die Tochter des Künstlers Otto Nagel muss erleben, wie der Staat ständig versucht, an den „devisenträchtigen Nachlass zu kommen“, wie sie 1990 in einem Zeitungsinterview sagt. Der „unsichtbare Knüppel“ hat in der Familie tiefe Wunden hinterlassen. 1990 ist Sibylle Schallenberg-Nagel Ende 40 und als Kunstwissenschaftlerin seit 10 Jahren arbeitslos. Diffamiert, ausgegrenzt. Trotz allem will sie keine Rache, sondern Aufklärung des Geschehenen. Auch ich erzähle immer wieder die Geschichte. Das Unbegreifliche nicht fassen können, ist es etwas, was mein Leben prägte. 2019 ist es Zeit, schonungslos alles offen zu legen. Dank einem Forschungsprojekt mit der Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur fanden sich über 3.000 Seiten u.a. in Akten des Ost-Berliner Magistrats, Ministeriums für Kultur der DDR, Museen und Staatssicherheit. Der „unsichtbare Knüppel“  - ein Netz, das über die Jahre immer größer wurde.

Der Berliner Maler Otto Nagel, geboren 1894, Kommunist, politisch Verfolgter und im Widerstand gegen das NS-Regime, baut nach dem Ende des II. Weltkrieges die DDR mit auf: als engagierter Kulturpolitiker und Präsident der Akademie der Künste der DDR (AdK). Nagel, ein Verfechter eines Deutschlands ohne Grenze, stieß mit der Kulturpolitik unter Ulbricht zusammen. Und so muss Otto Nagel als Präsident der AdK 1962 seinen Hut nehmen.

Ab 1952 lebte die Familie Nagel in Berlin-Biesdorf. Der „Kulturbetrieb Nagel“ war ein Ort des gedanklichen Austausches. Seit 1963 ist auch seine Tochter Sibylle, gerade 20 Jahre alt, als kunstwissenschaftliche Mitarbeiterin einbezogen. Sie dokumentiert gemeinsam mit ihrem Vater das Œuvre und arbeitet an zahlreichen Publikationen über andere Künstler. Nach dem Tode Nagels 1967 wollen Witwe und Tochter weiterhin den künstlerischen Nachlass pflegen. Der Maler aus dem Berliner Arbeiterbezirk Wedding und sein Realismus werden schnell zum Ideal sozialistischer Kunst. Schulkinder lernen Otto Nagel als Vertreter des „revolutionären Klassenkampfes“ kennen. Die Familie erlebt eine hohe Würdigung, genießt staatliche Vorzüge.
 
Mit dem Ost-Berliner Oberbürgermeister handelt die Nagel-Witwe 1972 einen umfangreichen Vertrag aus. Der künstlerische Nachlass geht als Dauerleihgabe an den Magistrat. Auf Initiative von Walentina Nagel entsteht so das „Otto-Nagel-Haus“. Wechselnde Sonderausstellungen, offen für jeden und eigenständig in der Verwaltung, machten das Haus zu einem vielbeachteten Angebot. Ich habe dort meine Kindheit verbracht. Meine Eltern leiteten es voller Engagement. Hier konnte ich die zahlreichen Bilder meines Großvaters sehen. Wie groß müssen die Bilder auf mich gewirkt haben? Aber schnell zeichnet sich ab: Ein privat geführtes Museum ist in der DDR nicht erwünscht. Mein Vater, Götz Schallenberg, als Leiter des Hauses wird ebenso abgelehnt wie die Zusammenarbeit mit seiner Frau Sibylle.

Der künstlerische Nachlass von Otto Nagel rückt nun immer mehr in den Focus des Staatsapparats. Schon drei Beispiele zeigen wie skrupellos der Griff nach dem Erbe war.

1. Griff nach dem Haus

Im März 1977 besucht der Kulturstadtrat Walentina Nagel. Thema: ein Vertragsentwurf des Ministeriums für Kultur: „zur Regelung der Nachfolgeschaft im Wohnhaus von Gen. Otto Nagel“ notiert am 8.3.1977 für den Oberbürgermeister. Auftraggeber: Siegfried Otto, ein ominöser Generalmajor der NVA, aus dem Umfeld von Erich Honecker.

„[…] nachdem sich Genn. Nagel […] erregt zeigte“, schreibt der Oberbürgermeister dem Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann am 30.3.1977: „Die Regelung über das Wohnhaus und die eventuelle Rechtsnachfolge kann auch nur durch Dich veranlasst werden […]“  

1979 - Die Erben verlassen frustriert das „Otto-Nagel-Haus“. Die Bilder, z.T. beschädigt, kommen zurück in das Biesdorfer Atelier. Die politische Linie des Staates war nicht erfüllt. Aber auch illegale Kopien von Nagel-Bildern führen zum Eklat.

Für das Nagel-Wohnhaus interessiert sich ab 22.6.1979 die Kreisdienststelle des MfS Marzahn.  Am 26.06.1979, fast gleichzeitig, entsteht ein Baugutachten für diese Adresse. Auftraggeber wieder Siegfried Otto.

Ein IM soll prüfen: „ob das der WN gehörende Haus derzeitig oder später für operative Zwecke genutzt werden kann und zwar als
- konspirative Wohnung (Nutzung eines Raumes)
- konspiratives Objekt (Nutzung mehrerer Räume und Garage)“

Man kennt man das Grundstück mit sehr großem Haus und den umfangreichen Nachlass. Die Witwe Nagels soll in der Bevölkerung keinen sehr guten Leumund haben. Auch die Tochter mit ihrer Familie ist bekannt.

Ein IM soll die künstlerischen Pläne und Absichten ermitteln sowie die Einstellung zur Kulturpolitik der Partei. Hinweis:  „[..] man erzählt sich, dass Schallenbergs nach dem Tode von WN das Haus übernehmen wollen.“ Von Interesse ist, welche Person die Bilder im Wohnhaus sehen können und welche Verbindungen ins kapitalistische Ausland bestehen.

Die Schlinge zieht sich weiter zu. Verschiedene Dokumente lassen das Ziel erkennen. Die zeitliche Abfolge der Ereignisse zeigt die Spur.

Dienstag, 15.04.1980: Ein Mitarbeiter der HVA notiert handschriftlich auf einem Blatt im A3-Format Angaben der Genn. L., genannt Quelle (Q.):

Diese kennt Sibylle und Familie schon sehr lange, Sibylle sei sehr verwöhnt und eingebildet. Ist mit der 10. Klasse von der Schule gegangen, hatte eine wissenschaftliche Bildung „nicht nötig“, wie Genn. L. behauptet, sie baute auf den Vater, hätte kleinbürgerliche Allüren.

Mutter und Tochter seien zerstritten. Walentina Nagel wohnt allein, Haus ist ihr Eigentum. Genn. L. nennt Details vom Haus mit Inventar. Der Schwiegersohn Götz Schallenberg:  „sehr aufgeschlossen und freundlich, sehr aktiv im ON Haus, viele Veranstaltungen.“

zu den Vorkommnissen im Otto-Nagel-Haus teilt Genn. L. mit: Er ist in den ‚Mühlstein‘ geraten, habe „Sturheit der Wally zu verdanken, fühlt sich trotzdem Otto verpflichtet.“ Sybille sei Autodidakt. "‚Schmollwinkel‘ jetzt; kann nicht, ist nichts (mehr), überheblich“

Freitag, 18.04.1980: Ermittlungsauftrag der Stasi, vermutlich ausgelöst von Genn. L.  Dem MfS in Marzahn ist der Rückzug der Schallenbergs aus dem ONH bekannt.

Es heißt zum Otto-Nagel-Haus:  
„Wegen Altersstarrsinn der noch Lebenden Witwe des Otto N. überwarfen sich Sch. und besonders seine Frau mit dem Magistrat und wurden abgelöst.“

Wie haben sie die Ablösung verkraftet? Das Verhältnis der Eheleute untereinander will man wissen. Denn so heißt es: „sie soll herrisch sein.“

- im Hause Schallenberg befinden sich viele Kunstwerke, Kunstraub sei vorzubeugen.

Bindungen an die DDR sind von Interesse, gleichwohl das Verhältnis zur Umwelt sowie Charaktereigenschaften. Wer besucht die Schallenbergs und wie oft? Die Ermittlungen sollen nur im Wohngebiet erfolgen, bei staatlichen Stellen nicht.

Hinweis:  „Auskunft können auch Angestellte des ONH geben, aber gespanntes Verhältnis beachten (Schadenfreude über das Schicksal der Schallenbergs; in diesem Fall exakte Legende)“

und weiter:  „Ehefrau Sch.-Nagel, Sybille, [...] ehem. künstlerische Angestellte im ONH; spielt jetzt die ‚Beleidigte‘, drei minderjährige Kinder“

[..] Als Direktor des ONH soll Sch. Götz vor seiner Absetzung u.a. vorgeworfen worden sein, Gegenstände aus dem Nachlass ins westliche Ausland veräußert zu haben. Laut Auskunftspersonen läuft die Prüfung dieser Angelegenheit über das ZK und ist z.Z. noch nicht abgeschlossen.“

Ermittlungen erfolgen am 14.05. und 15.05. 1980

Die AKP, Auskunftspersonen, meinen, das Ehepaar Sch. und W.N. seien stark westlich orientiert und die Kinder entsprechend erzogen worden. „Hätte das Ehepaar Kapital im Westlichen Ausland, neigen die Auskunftspersonen dazu, zu glauben, dass die Sch. die DDR verlassen würden.“

Montag, 12.5. und Dienstag, 13.5.1980

Text zum Otto-Nagel-Haus, der Staatssekretär für Kultur Kurt Löffler notiert: „Die Versuche der Erben, in leitenden Positionen des ONH wider die Interessen des Staates persönliche Interessen durchzusetzen, führten zu ernsten Differenzen mit der Familie Otto Nagels.“

Wenn die Akademie der Künste den Nachlass pflege: „[..] bestände für die Betreuer des Nachlasses […] nicht mehr die Möglichkeit in Arbeitsabläufe einzugreifen, die notwendig sind, um kulturpolitische Ziele zu erreichen.“ Und: Die Staatlichen Museen zu Berlin wollen den Nachlass, ein Beschluss des Ministerrates der DDR soll jede Mitbestimmung anderer ausschließen.

2. Testamentsentwurf zu Gunsten des Staates

Freitag, 16.5.1980: Auch der Magistrat will den Nachlass. In einem Testamentsentwurf heißt es u.a.:

„Unter der Voraussetzung, daß die Staatsorgane auf die Erhebung der Erbschaftssteuer meiner Tochter gegenüber, falls diese die Erbschaft annimmt, verzichten, vermache ich alle in meinem Besitz befindlichen Ölbilder, Handzeichnungen und Pastelle von Otto Nagel […] als unveräußerlichen Nationalbesitz der DDR dem Magistrat von Berlin.“  Das Haus natürlich auch. Den Entwurf für das Testament schickte der Stadtrat für Kultur den Staatssekretär für Kultur.

Im Frühjahr 1981 wird das Otto-Nagel-Haus per Beschluss an die Staatlichen Museen angegliedert und soll der, wie es heißt,: „[…] Gesamtdarstellung der proletarisch-revolutionären Kunst sowie der antifaschistischen deutschen Kunst dienen.“

und der „künstlerische Nachlass und das wissenschaftliche Archiv Otto Nagels werden in die Arbeit des Hauses eingeordnet“.

Folgen:
- der Vertrag zwischen Magistrat, Walli Nagel und Sibylle Schallenberg-Nagel ist gegenstandslos
- ein neuer Leihvertrag ist allein mit Walli Nagel zu schließen
- auch der Arbeitsvertrag zur Pflege des Nachlasses durch Sibylle Schallenberg-Nagel endet

Danach verhindern die Kulturfunktionäre zahlreiche Publikationen.

Nach dem Tod von Walentina Nagel im Oktober 1983 möchte die Tochter das Vermächtnis fortführen. Das Wohnhaus soll eine öffentliche Gedenkstätte mit künstlerischen und  dokumentarischen Nachlass werden. Die Kulturpolitik der DDR verfolgt andere Interessen. Kunst im Eigentum der DDR ist das Ziel. Und Devisen benötigt der Staat auch dringend. Auch Nagels Werke verlassen über den staatlichen Kunsthandel die DDR. Das Haus soll ein Gästehaus werden.

3. Enteignung über Ministerratsbeschluss

Auf ein Schreiben von Staatssekretär Kurt Löffler an den Stellvertreter des Ministers für Kultur ist hier kurz einzugehen.

19.1.1984: Löffler berichtet über fehlgeschlagene Gespräche mit Walli Nagel und Tochter zum Testament. Und macht Vorschläge „die ‚Verteilung‘ des Nachlasses auszuarbeiten (Übereignung der entscheidenden Werke Otto Nagels an die DDR, Übergabe des wesentlich weiteren Teils als ständige Leihgabe an die Staatl. Museen zu Berlin, Festlegung des Anteils der Werke, die im Privatbesitz bleiben.)“

Grundlage sei das Schriftstück von Sibylle Schallenberg-Nagel zur Gedenkstätte. Die Erbin wollte aber nur einige Werke an den Staat herausgeben, nicht die entscheidenden. Parteiführung und der Minister für Kultur sind involviert.

Aber damit nicht genug. Der Justiziar im Ministerium für Kultur legt dem Staatssekretär zum künstlerischen Nachlass einen Plan vor, datiert mit 29.10.1984. Der Ministerrat soll einen Beschluss fassen, der die „Sicherung, Pflege und Erschließung eines künstlerischen Nachlasses zur ,Angelegenheit der Nation“ erkläre.

Der Justiziar meint: „Inhaltlich sollte der Beschluss – etwas deutlicher als die bisherigen – die Wahrung der Rechte der Erben ausdrücklich erwähnen und auch sonst optisch und substantiell ,erbenfreundlich‘ gehalten sein.“  

Und er bilde den rechtlichen Rahmen „für weitergehende Vereinbarungen mit der Erbin […] sowie […] für absehbare Anträge an den Minister der Finanzen auf Steuererlass oder Ermäßigung“.

Ende 1984 steht der künstlerische Nachlass unter dem Kulturgutschutzgesetz der DDR. Der Finanzmister legt im September 1985 fest: Sibylle Schallenberg-Nagel soll im Wert von 1,6 Millionen DDR-Mark Werke von Otto Nagel als Schenkung bereitstellen. Dafür erhält sie eine Befreiung der Erbschafts- und Vermögenssteuer in gleicher Höhe. Involviert: Wieder der Minister für Kultur, sein Staatssekretär und die Staatlichen Museen zu Berlin.

Der Staat greift schnell zu, laut einem Protokoll der AdK am 11. Oktober 1985: fast 300 Werke von Otto Nagel, d.h. 80% des Nachlasses, werden de facto beschlagnahmt. Ohne rechtliche Grundlage dafür. Der sog. Schenkungsvertrag folgt erst im Dezember 1985. Meiner Mutter platzt hier der Kragen. Ihr Unmut über den Entzug der Werke ihre Vaters drang durch ein Protokoll an die höchste Stelle. Ursula Ragwitz, ZK SED, Abt. Kultur, will Mitte Januar 1986 Sibylle Schallenberg-Nagel juristisch zur Verantwortung ziehen.
 
Februar 1986: Meine Eltern fliehen mit mir auf einen einsamem Bauernhof. Götz Schallenberg wurde laut Stasi-Akte schon 1980 „aufgeklärt, um operative Nutzung zu prüfen.“ Seit 1980 ist Sibylle Schallenberg-Nagel ohne Arbeit, Götz Schallenberg erhielt als Künstler kaum Aufträge. Für die Stasi ideal: Unter der „Legende Grafik-Kauf“ wurden zwei Kontaktgespräche mit Sch. geführt.“ ABER: „Ein Einsatz zur Bekämpfung des politischen Untergrundes kam nicht zu Stande.“

Frühjahr 1986 wurde, wie es heißt, die „inoffizielle Nutzung des Sch. in Richtung Schaffung einer KW (konspirative Wohnung) bzw. eine KO (konspiratives Objekt) in der Anschrift ON-Str. 5-6 (ehem. Wohnhaus des Prof. Otto Nagel), ohne erneute Kontaktaufnahme geprüft.“ ABER: im September 1985 hatte der Kulturfond der DDR bereits das Haus erworben.

Das MfS ist der Familie auf der Spur – hat sogar den Kauf des Bauernhofes 1984 befürwortet. Und weiter ist zu lesen:  „Eine Bewerbung des Sch. zur kulturpolitischen Mitarbeit im Nachbarkreis Lübz (Bez. Schwerin) wurde durch die KD Lübz operativ unterstützt.“ Götz Schallenberg kann ab Herbst 1986 gleich an der Volkshochschule unterrichten. Alles geplant von der Stasi.

Sibylle Schallenberg-Nagel wird diffamiert, wie die Akten hergeben: „Die Ehefrau Sch. […] hat keinen erlernten Beruf oder eine wissenschaftliche Ausbildung und betätigte sich als Privatsekretärin ihres Vaters, später als ‚wissenschaftliche Mitarbeiterin‘ im ONH und jetzt als Hausfrau.“

und weiter: „Sie verfügt über eine kleinbürgerliche Einstellung und ein übersteigertes Selbstbewusstsein. Es ist nicht auszuschließen, dass sie als Erbin der Gemälde Otto Nagels, die DDR - Kulturgut darstellen, längerfristig nach Mitteln und Wegen suchen wird, um diese zu veräußern, und in politischer Blindheit dabei unsere Gesetzgebung zur Ausfuhr von Kulturgütern in das NSW missachtet.“
Die traditionelle Verbindung zum ‚Kunstamt‘ in West-Berlin zeuge laut MfS von illegalen Aktivitäten gegen die DDR.

Mein Bruder Tim stellt im April 1986 einen Ausreiseantrag, gerade 18 Jahre alt.  Er habe als Enkel des Künstlers Otto Nagel erleben müssen:

„...dass die Familienmitglieder und Nachkommen des o.g. Künstlers in der DDR Schikanen, Repressalien und psychischem Druck seitens führender Funktionäre im Staatsapparat ausgesetzt waren und sind.“ und deren Verhalten sei: „irreführend und menschenfeindlich, geprägt von Verlogenheit bis hinzu Feindseligkeit.“

Wie aus dem Lehrbuch beginnt die Maschine zu laufen. Noch am selben Tag weiß die Stasi Bescheid, die Familie im Visier.  Im Erstgespräch am 24.04.1986 nennt der Enkel von Otto Nagel knallhart alle Fakten: Innerhalb von 48 Stunden könnten die Eltern die DDR verlassen, wenn sie auf den Nachlass verzichten.

Schonungslos nennt er die Täter: „So wurde von Siegfried Otto, Sekretär von Erich Honecker, argumentiert. Kurt Löffler, Staatssekretär im Ministerium für Kultur, bot einen zinslosen Kredit zur Testamentsänderung an.“

Zum Termin am 09.12.86 beim Rat des Stadtbezirks Marzahn ist notiert: „In einer Argumentation wurde getestet, wie verfestigt das Ersuchen bei Sch. ist. Es handelt sich bei ihm um einen langjährigen Prozess in Verbindung seiner Eltern, die als unmittelbare Verwandte des prol. Malers Nagel (Mutter ist die Tochter) angeblich Repressalien ausgesetzt sein sollen.“

Am 13. Januar 1987 geht ein Schreiben ‚nur für den Dienstgebrauch‘ vom Rat des Stadtbezirks Marzahn Abt. Inneres an den Rat des Stadtbezirks Marzahn, Abt. Kultur.Die Abt. Inneres unterrichtet den Empfänger über das „Ersuchen auf Übersiedlung des Schallenberg, Tim. […] Enkel des proletarischen Malers Otto Nagel.“Die ständigen Repressalien gegen die Familie sowie Probleme mit Testament bzw. Erbe O. Nagels werden erwähnt. Das Anliegen des Schreibens: „ob bei einer Zustimmung des Ersuchens für die DDR politischer Schaden entsteht.“
 
„Nach Aussagen des Sch. sollen auch schon Gespräche mit der Familie Sch. durch Siegfried Otto, Sekr. des Gen. Erich Honecker und Kurt Löffler, Staatssekretär im Ministerium für Kultur
geführt worden sein.“

Über zwei Jahre gibt es immer wieder Vorladungen. Schließlich wird eingeschätzt: „Als Motiv ist erkennbar, dass Sch. die Art und Weise der Würdigung der Verwendung des Erbes von Otto Nagel politisch nicht richtig einzuordnen versteht. Hinzu kommt bei Sch. eine negative Einstellung zu Grundfragen der soz. Entwicklung.“ Und: „Zu beachten ist jedoch, dass Sch. als Enkel des bekannten Malers Otto Nagel Kenntnisse über Tatgegenstände und Sachverhalte hat, die im politischen und gesellschaftlichen Interesse der DDR sind. Durch eine Übersiedlung könnte der DDR politischer Schaden entstehen.“

Aber „zur Zurückdrängung des Übersiedlungsersuchens“ gibt es folgende Hinweise: „Die von Sch. Tim vorgebrachten Argumente, wonach seine Eltern ‚Repressalien‘ und ‚psychischem Druck‘ seitens staatlicher Organe ausgesetzt waren, entbehrte jeder Grundlage und stellen eine Verleumdung dar.“  D.h. die Stasi beschließt, die Repressalien gab es nicht.

Zum Vater heißt es: 1979 sei G. Sch. vom Magistrat als Direktor ONH abberufen, „weil er eine eigenmächtige Kaderpolitik betrieb und disziplinlos war.“

S. Schall.-Nagel verbreite laut MfS: „Unwahrheiten und verzerrte Darstellung über ihr Schicksal. Sie nimmt einen politischen negativen Einfluss auf ihre drei Kinder.“

Und weiter:
„Für seine Übersiedlung bestehen aus der Sicht des hier vorliegenden operativen Materials keine echten Gründe und es sollte eine ehrliche, dauerhafte Abstandsnahme vom Übersiedlungsersuchen angestrebt werden. Dazu sollte unter Mitwirkung der SED Kreisleitungen Berlin Marzahn und Lübz, Bez. Schwerin (zuständig für die Betreuung Schallenbergs) der Einfluss auf G.Schall. zur Erziehung seines Sohnes Tim verstärkt werden.“

Tim verlässt am 08.08.1988 endgültig die DDR, ist aber weiter in den Fängen des MfS. SOUD-Erfassung,  Kategorie 4: „Beteiligung an der Tätigkeit terroristischer und anderer feindlicher Organisationen/ Einrichtungen“  Anmerkung: im SOUD waren zahlreiche Personen erfasst wie ausgewiesene oder unerwünschte Personen, ferner Unterstützer oppositioneller Gruppen sowie andere, die als Bedrohung für die sozialistischen Staaten galten.

Das MfS will die Familie zerstören: Götz Schallenberg soll als IM Ehefrau und Kinder wieder in den sozialistischen Einheitskanon einreihen. Ich bin der Faustpfand, 1988 delegiert zur EOS. Der Plan misslingt, der Sohn reist aus. Ein Abitur für mich unerreichbar, 1990 öffentlich diffamiert.  Meine 1994 beantragte Anerkennung als politisch verfolgte Schülerin wurde abgelehnt.
 
Erst im Februar 2022, nach Antrag auf Wiederaufnahme, erfolgt die Anerkennung. Im Bescheid heißt es:   „Das Forschungsprojekt lässt eindeutige Hinweise zu, dass Ihre Verweisung von der EOS aus politischen Gründen erfolgte.“

Ein perfides Spiel. Der Bescheid fasst zusammen:
- das MfS hatte Pläne den Vater als IM zu gewinnen, um das Ziel zu erreichen steht das Angebot, die Tochter zur EOS zu zulassen
- gleichzeitig sollte der Vater auf den Sohn Tim einwirken, seinen Ausreiseantrag zurückzunehmen und die Mutter dazu bringen, linentreuer zu sein und (das restliche) Erbe ihres Vaters, Otto Nagel, an den Staat abzutreten
- der Plan misslang, um Macht zu beweisen, erfolgte die Relegation von der EOS unter dem Vorwand schlechter Leistungen

Ein Akt politischer Verfolgung. Die Entscheidung ist mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates unvereinbar.

Die Spuren des künstlerischen Nachlasses verlieren sich mit der Zeit. Die Familie hat sehr lange um das künstlerische Werk und das Ansehen Otto Nagels gekämpft. Alle zahlen am Ende einen sehr hohen Preis. Die Restitution der Bilder und des Wohnhauses scheitert 1998 endgültig.
 
(c) Salka-Valka Schallenberg, 02.06.2022
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